Rage und Ragebait: Die langlebige Mode der Wut
Es ist eine langlebige Mode, wütend zu sein. Die eigene Wut zu spüren – das wirkt authentisch. Eine kraftvolle Emotion, oder? Wer wütend ist, hat offensichtlich noch Ideale, glaubt an irgendetwas – woran auch immer. Wut hat eine klare Botschaft: Mir jedenfalls ist noch nicht alles egal. Ich gehöre nicht zu denen, die alles mit sich machen lassen.
Genauso ist es, würde der gute alter Wutbürger sagen. Wenn man ihn ließe, könnte er jetzt ganz viel darüber erzählen. Genau darin besteht das Problem: Meistens macht es eher wenig Spaß, sich von Wutbürgern zutexten zu lassen. Eine Erfahrung, die mittlerweile zum Begriff geworden ist: Wer wütend ist, erzählt auch eine Menge Schrott. Ein Wutbürger eben, mittlerweile ein Querdenker. Wütend sind sie alle. Aber ihre Wut nervt eben auch ziemlich.
Damit stellt sich eine unbequeme Frage: Gibt es legitime Wut – und folglich auch weniger legitime? Darüber können die Wütenden jetzt miteinander streiten – und dürften dabei noch wütender werden. Wenn nicht alles täuscht, ist die legitim erscheinende Wut inzwischen partiell ins Französisch-Englische abgewandert, als „Rage“. Damit wird die ganze Sache noch deutlich dramatischer. Wer „in Rage“ gerät, befindet sich schon fast im Ausnahmezustand. Da fehlt nicht mehr viel, und ich haue hier wirklich alles in Stücke.
Das funzt – das klickt. Und damit sind wir bereits beim vertrauten digitalen Aspekt der Wut: Der Grenzzustand erzeugt nun einmal mehr Aufmerksamkeit als die wohltemperierte Ausgeglichenheit. Davon künden „Rage against Racism“ und „Female Rage“. Und weil ständig alle in Rage geraten, gibt es natürlich auch „Ragebait“, Netzcontent, der von vornherein darauf angelegt ist, die Wütenden zu provozieren, sie zur wuterfüllten Interaktion anzustacheln.
Nicht, dass sich Wut im konkreten Falle nicht rechtfertigen ließe. Deren Ökonomisierung würde sonst kaum so gut funktionieren. Die Frage ist nur, wohin das inflationär betriebene Wutgeschäft auf Dauer driften wird. Bei Hans Blumenberg liest man den beunruhigenden Satz, dass eine allgemeine „Wut auf die Welt“ in ihrem „Extremwert“ bedeutet, „deren Untergang zu betreiben“. Sobald sich alles in Wut verwandelt, ist nämlich auch der Fundamentalist nicht mehr weit, der einer spontan geäußerten Rage ein echtes Zerstörungswerk folgen lässt (vgl. Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluss, Frankfurt a.M. 1988, S. 57ff.).
Blumenberg hat Ende der 1980er Jahre hellsichtig den Terror des neuen Jahrtausends vorausgeahnt. Was wird die Kultivierung der Wut in unseren Tagen hervorbringen? Schon immer hatte das Gerede von der eigenen Wut etwas unangenehm Inszeniertes. Mittlerweile jedoch wirkt es besorgniserregend, nicht zuletzt weil auch die politische Verantwortung zu schwinden scheint. Wenn mittlerweile auch die Regierenden an Metaphern kalter Grausamkeit Gefallen finden – wer möchte ausschließen, dass nicht auch sie eines Tages ihre verborgene kalte Wut entdecken?