Wilm Hüffer

Autor

Herta Müller und die Angst vor dem Leben

Angstzustände scheinen aus unserer Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Gefühle, völliger Erschöpfung, versiegender Lebensmut und schließlich Panikattacken mit Schwindelanfällen. Herzrasen. Man spricht mittlerweile von Lebensangst.

Ebenso menschlich wie bedrohlich ist die Reaktion darauf: Der Angst folgt häufig die Vermeidung, ein schleichender Rückzug aus dem Leben. Zugleich entsteht ein Kreislauf der Angst. Denn je größer die Angst, neue Angstzustände zu durchleben, desto stärker die Versuchung, sich noch weiter zurückzuziehen.

Erstaunliche Kraft zur Selbstbesinnung fand ich neulich in den autobiografischen Schilderungen der Schriftstellerin Herta Müller („Lebensangst und Worthunger“. Ein Gespräch mit Michael Lentz zur Leipziger Poetikvorlesung 2009). Als junge Frau in Rumänien erlebt sie genau das, was wir heute unter Lebensangst verstehen.

Drei Jahre lang arbeitet sie als Übersetzerin in einer Traktorenfabrik. Weil sie sich nicht vom Geheimdienst als Spitzel anwerben lässt, wird sie immer bedrohlicher drangsaliert. Niemand traut sich mehr mit ihr zu sprechen. Sie verliert ihr Büro und muss ihre Übersetzungsarbeiten auf einer Treppe machen.

In dieser Zeit reift bei ihr eine entscheidende Erkenntnis: „[A]b dem Moment, wo man sich den Suizid als Ausweg durch den Kopf gehen lässt, aber dann beim Verhör bedroht wird: ,Wir stecken dich ins Wasser‘ oder ,Es gibt auch Verkehrsunfälle‘ – ab dem Moment denkt man: Moment mal, ich tu ja genau das, was die sich wünschen. Ich mache deren Drecksarbeit.“

Das paradoxe Ergebnis dieser Überlegung beschreibt die Schriftstellerin so: „Ich wurde lebenshungrig, gespenstisch erpicht aufs Leben, und sei es noch so kompliziert.“ Im Moment der größten Angst wird für Herta Müller deren eigentliches Wesen offenbar: Es ist nicht eigentlich eine Angst vor der Welt als solcher, sondern davor, sich auf die Welt nicht mehr einlassen zu können, um jede Möglichkeit der Beteiligung gebracht zu werden.

Lebensangst ist in Wirklichkeit eine Äußerung des Lebenswillens. Sie lässt sich nicht heilen durch Weltflucht, sondern nur durch den Mut zu neuer Beteiligung an der Welt. Wer jemals Panikattacken erlitten hat, weiß, wie viel Überwindung das kostet. Aber der Lebenshunger von Herta Müller kann dabei zweifellos eine wertvolle Unterstützung sein.

Ausführlich habe ich zu dieser Frage im Philosophie-Magazin 4/2025 geschrieben