Die Torheit der Regierenden – und der Regierten
Einer der wichtigsten Faktoren in der Politik ist die „Engstirnigkeit“, schreibt die Historikerin Barbara Tuchman 1984 in ihrem berühmten Buch über die „Torheit der Regierenden“. Die Engstirnigkeit bestehe darin, „eine Situation nach vorgefassten, festen Anschauungen einzuschätzen und gegenteilige Anzeichen zu missachten oder zu verleugnen.“
Für Tuchman besteht darin das wichtigste Kriterium politischer Dummheit: Man tut oder befürwortet Dinge, die eindeutig und erkennbar gegen die eigenen Interessen gerichtet sind. Man sägt den Ast ab, auf dem man sitzt. Man lässt sich von der Überzeugung nicht abbringen, das Richtige zu tun. Auch ein seltsames Knacken und Krachen ändert daran nichts. Nicht einmal der Umstand, dass der Ast langsam nachzugeben scheint.
Neu ist heute, dass die „Torheit der Regierenden“ zu einer Form der politischen Repräsentation geworden ist. Das konnte Barbara Tuchman 1984 noch nicht ahnen. Engstirnigkeit beansprucht mittlerweile, sich politisch vertreten zu lassen. Die Umstände mögen sein, wie sie wollen. Die Krisen mögen unerwünschte Folgen haben. Mir ist das gleichgültig. Für mich kann und darf sich nichts ändern.
Die Erscheinungsformen solcher Engstirnigkeit sind bekannt. Für die Gefahr, die von ihr droht, gilt dasselbe. Sobald Engstirnigkeit bedeutet, Fakten zu leugnen, sich eine Scheinwelt zu schaffen, die der eigenen Ignoranz zur Rechtfertigung dient, beginnt die öffentliche Diskussionsbasis zu bröckeln. Politische Repräsentanten haben dann zwei Möglichkeiten: entschieden dagegen zu halten. Oder aber eine Scheinwelt politischer Forderungen aufzubauen, die dieser Engstirnigkeit die Fassade politischer Legitimität verschafft.
Die entsprechenden Strategien des Populismus sind bekannt. Neu ist in Deutschland, dass sich nun auch die politische Mitte für dieses Instrumentarium zu öffnen beginnt. Es droht eine reziproke Torheit der Regierenden ebenso wie der Regierten. Aus den USA kennen wir das schon. Es ist eine gegenseitige Bestärkung in dem Bemühen, der gemeinsamen Engstirnigkeit zum Erfolg zu verhelfen.
Die politischen Werkzeuge dafür finden wir bei Barbara Tuchman. Wir finden sie in der MAGA-Bewegung. Und wir finden sie nun auch in den reaktionären Blasen unserer Gesellschaft, die offenbar bereits in Regierungskreise hineinreichen. Das wirkungsvollste Mittel hat der berüchtigte Senator Joseph McCarthy in den Nachkriegsjahren ersonnen: Konstruiere eine politische Gefahr, um deren vermeintliche Agenten jagen zu können.
Erfinde eine Gespensterwelt voller Kommunisten, voller Sozialisten, Industriezerstörer und radikaler Abtreibungsbefürworter. Möbliere eine Welt der politischen Paranoia, die den Engstirnigen das gute Gefühl verschafft, zu Recht engstirnig zu sein. Der gemeinsamen Torheit von Regierenden und Regierten stehen dann alle Wege offen.