Der Staat als Vormund: Von Merkel zu Merz
Friedrich Merz ist nicht Bundeskanzler. Er ist CEO eines Großunternehmens namens Bundesrepublik. Das ist der Eindruck, den der Kanzler von sich vermittelt. Ständig redet er von Leistungsbilanzen. Wir müssten mehr arbeiten. Wir könnten uns nicht mehr alles leisten. Er wirbt nicht für einen politischen Kurs. Er redet immer wieder wie ein Chef zu seinen Untergebenen. Das ist nicht nur ungeschickt. Es ist für die politische Kultur in der gegenwärtigen Krise geradezu fatal.
Warum klingt der Ton des neuen Kanzlers so unangenehm? Sicher hat das das mit den Regierungsjahren von Angela Merkel (und auch ein wenig von Olaf Scholz) zu tun. Die wirkten vergleichsweise wie ein Beruhigungsmittel. Vor allem Merkels Kraft der Demobilisierung war ein Musterbeispiel für das, was bereits Tocqueville als vormundschaftliches Regieren bezeichnet. Um sich selbst kreisende Menschen werden ruhiggestellt. Man versucht sie „in der Kindheit festzuhalten“ (vgl. Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika , II, 36).
Der Souverän als Schlafmittel: Das war eine Rezeptur, die lange geeignet schien, die meisten mit der „Vormundschaftsgewalt“ zu versöhnen. Sie trösten sich darüber, so schreibt Tocqueville, „in dem Gedanken, dass sie selbst ihren Vormund gewählt haben. Jeder Einzelne lässt sich willig fesseln, weil er sieht, […] das Volk selbst hält das Ende der Kette.“
In der Krise jedoch verfliegt dieser sanfte Trost – und mit ihm die Illusion, sich ganz auf das eigene Wohlergehen konzentrieren zu können. Umso verstörter reagiert die verwaltete Wählerschaft. Wie bitte, der Staat ist nicht in der Lage, Wirtschafts- und Klimakrise zu bewältigen? Mit der zuvor antrainierten Beschränkung auf die eigenen Bedürfnisse wächst die Ungeduld. Viele sehen ihre Felle wegschwimmen und sind erbost über fehlende Gegenmaßnahmen, „die geringste Verzögerung bringt sie auf“ (Tocqueville, II, 37).
In dieser kritischen Situation wäre es erforderlich, politische Partizipation zu stärken, Menschen wieder für gemeinsame Ziele zu gewinnen. Doch Friedrich Merz bewirkt eher das Gegenteil. Mit ihm, so scheint es, tritt hinter den rosafarbenen Schleiern der Merkel-Jahre auf einmal der vormundschaftliche Staat in unverhüllter Autorität hervor. ,Es läuft nicht so, wie es laufen sollte? Dann, meine Damen und Herren, ist es Zeit, dass Sie sich endlich zusammenreißen! Alles hört auf mein Kommando.‘
Genau das ist es, was Wählerinnen und Wähler nicht hören wollen. Der autoritäre Ton des Kanzlers verstärkt einzig das Unbehagen, das ohnehin bereits alle empfinden, die sich als gestaltlose Verwaltungsmasse von den Regierenden nicht mehr ernstgenommen glauben. So lässt sich das Ausfransen des Parteienstaates an seinen extremen Rändern nicht stoppen. Im Gegenteil, die Belehrungen aus der Chefetage der Deutschland-AG wirken wie ein zusätzlicher Anreiz, die Kündigung einzureichen. Die Vorzeichen dafür sind unverkennbar.
Vor Friedrich Merz, dem CEO, regierte in grauer Vorzeit der Preußenkönig Friedrich II. Auch er war kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Immerhin jedoch verstand er sich als „erster Diener des Staates“. Und vor allem dienen zu wollen, wäre sicher auch in der gegenwärtigen Situation keine ganz schlechte Idee.